Strukturellen Rassismus sichtbar machen
Die Beratungsstellen für Rassismusopfer sind mit vielfältigen Diskriminierungserfahrungen konfrontiert. Diese sind nicht als isolierte Einzelfälle zu betrachten. Sie zeugen vielmehr von der historischen Verankerung von Rassismus in gesellschaftlichen Strukturen, welche Ungleichheiten legitimieren und reproduzieren.
Beitrag von Gina Vega, Leiterin der Fachstelle Diskriminierung und Rassismus und dem Beratungsnetz für Rassismusopfer bei humanrights.ch, im TANGRAM 46
Rassismus ist ein mehrdimensionales Konstrukt, das sich tagtäglich, systematisch und vielschichtig im gesellschaftlichen Alltag (re-)produziert. Um ihn zu verstehen, müssen die interpersonellen, institutionellen und strukturellen Dimensionen berücksichtigt werden, anhand welcher Rassismus eingebettet ist, sich manifestiert und Normalität schafft. Diese Dimensionen sind untrennbar miteinander verknüpft und wirken wechselwirkend aufeinander ein. Sie beinhalten Machtverhältnisse, welche gesellschaftliche Strukturen, Normen und Praktiken hervorbringen und Institutionen sowie Individuen beeinflussen.
Seit über zehn Jahren dokumentieren die Mitgliedstellen des Beratungsnetzes für Rassismusopfer Meldungen und Vorfälle rassistischer Diskriminierung, welche in allen Lebensbereichen und in unterschiedlichen Kontexten auftreten. Die Vorfälle widerspiegeln die Systematik von Rassismus in der Schweiz, welche in Alltagsrassismen wie rassistischen Beschimpfungen, Herabwürdigungen, Unterstellungen sowie in strukturellem und institutionellem Rassismus in Form von Racial Profiling oder dem erschwerten Zugang zu Arbeit, Bildung, Gesundheitsversorgung und Wohnen, Ausdruck findet.
Über die Jahre hinweg verdeutlichen die Meldungen, dass sich Rassismuserfahrungen schweizweit und konstant in ihrer Form und ihren Auswirkungen wiederholen und unterschiedlichste Personengruppen betreffen. Betroffene werden rassifiziert und mit historisch gewachsenen, undifferenzierten sowie stigmatisierenden Vorstellungen von «Andersartigkeit» und «Fremdheit» konfrontiert. Diese finden sich auf individueller Ebene in Denk- und Einstellungsmustern wieder, die zu – nicht unbedingt beabsichtigten – rassistischen Handlungen führen. Auf institutioneller und struktureller Ebene wirken diese Vorstellungen und ihre homogenisierenden, hierarchisierenden und polarisierenden Narrative auf Gesetze, Wissensbestände, Routinen und Entscheidungsabläufe ein, wodurch bestimmte Menschen von vornherein benachteiligt und andere privilegiert werden.
Struktureller Rassismus ist schwer zu erkennen und benennen
Strukturelle Benachteiligung ist oft subtil und für nicht Betroffene schwer zu erkennen. Sie wird gesellschaftlich toleriert, da sie nicht im Wirkungsfeld der Absichten und Einstellungen einzelner Personen liegt, sondern institutionalisiert ist. So finden vorläufig aufgenommen Personen in der Schweiz auch nach mehreren Jahren Aufenthalt nur schwer eine Arbeitsstelle oder Zugang zu Bildung; kopftuchtragende Musliminnen werden von Stellen als Lehrpersonen oder mit Kundenkontakt ausgeschlossen, weshalb sie bestimmten Berufen nicht nachgehen können; Schwarze Menschen werden systematisch, wiederholt und ohne begründeten Anlass von der Polizei, der Grenzwache und Sicherheitsangestellten kontrolliert; Menschen mit als «fremd» wahrgenommenen Namen haben mehr Mühe zum Vorstellungsgespräch oder zur Wohnungsbesichtigung eingeladen zu werden; und ausländische und Schwarze Kinder werden in der Schule weniger gefördert und mit stereotypisierenden Vorstellungen sowohl von Lehrpersonen als auch von Mitschülerinnen und Mitschülern konfrontiert.
Das sind nur wenige Beispiele der sich wiederholenden Fälle, die an das Beratungsnetz für Rassismusopfer herangetragen werden. Vor allem die rassistischen Vorfälle in den Bereichen Arbeit, Bildung, Arbeits- und Wohnungsmarkt, Verwaltung und Polizei halten sich konstant auf hohem Niveau. Sie machen aber nur die Spitze des Eisberges aus: Die Dunkelziffer ist hoch und die Mehrheit der rassistischen Vorfälle wird nicht bei einer Beratungsstelle gemeldet. Nicht nur das Erlebte löst bei den Betroffenen Gefühle von Ohnmacht und Scham aus. Strukturelle Benachteiligungen können von den Betroffenen oft nur schwer als solche benannt werden, weshalb sie seltener an eine Beratungsstelle herangetragen werden.
Unzulängliche Rechtsmittel und fehlende Reflexion
Die Möglichkeiten, sich gegen strukturellen Rassismus zu wehren, sind sehr begrenzt. Auf der einer Seite bilden die gesetzlichen Rahmenbedingungen und der mangelhafte Zugang zum Recht nur schwer überwindbare Hürden. Können gegen rassistische Diskriminierung doch einmal rechtliche Schritte eingeleitet werden, führen diese meist nicht zu Erfolg oder Genugtuung für die Betroffenen. Auf der anderen Seite werden strukturelle Diskriminierungen von den zuständigen Institutionen oft dezidiert bestritten, bestehende und vertraute Strukturen und Abläufe nicht hinterfragt und so rassistische Praktiken aufrechterhalten. So anerkennt etwa die Polizei bis heute nicht, dass Racial Profiling strukturell in der Gesamtinstitution angelegt ist und stellt Fehlverhalten konstant als Einzelfälle ab. Damit werden die Auswirkungen für die Betroffenen nicht anerkannt und ihre Lage kaum ernst genommen. Gefühle der Benachteiligung und Diskriminierung bleiben bestehen und die Frustration und Resignation der Betroffenen wächst weiter an.
Auch auf dem Wohnungsmarkt werden rassistische Entscheidungsabläufe und Grundhaltungen nicht hinterfragt. Die Problematik fasst folgendes Fallbeispiel gut zusammen: Ein Schweizer mit kosovarischer Herkunft meldet sich nach Aufschaltung eines Wohnungsinserates für eine Besichtigung an. Er bekommt von der Wohnungsvermittlung eine Absage mit der Begründung, dass es bereits genügend interessentierte für die Wohnung gab. Seine Freundin wie später auch sein Schwager – mit einem als typisch schweizerisch verstandenen Nachnamen – meldeten sich daraufhin ebenso für eine Besichtigung an. Sie erhalten innert weniger Tage eine Einladung für eine Besichtigung. Nachdem der Betroffene mit Hilfe einer Beratungsstelle die Verwaltung zu einer Stellungnahme auffordert, erklärt diese, dass keine rassistischen Motive, sondern ein Missverständnis vorliege. Irritiert und frustriert bricht der Betroffene den Kontakt mit der Verwaltung ab.
Weitere ähnliche Meldungen veranschaulichen, dass dies keine individuelle, sondern eine kollektiv geteilte Erfahrung ist, die sich inzwischen auch mit Zahlen belegen lässt – wie etwa eine Studie des Bundesamts für Wohnungswesen im Jahr 2019 verdeutlichte.
Anerkennung des Problems
Für die Betroffene sind die Folgen von strukturellem Rassismus gravierend, da er in mehrere Lebensbereiche zugleich eingreift und sich systembedingt wiederholt. Zudem bestehen über Generationen hinweg kaum Möglichkeiten, sich der Wirkung rassistischer Strukturen zu entziehen. Dies wirkt sich negativ auf die Lebensqualität aus: Neben dem durch Diskriminierung verursachten Stress und der psychischen und physischen Belastung, sind strukturelle Benachteiligungen oft auch mit finanziellen und sozialen Konsequenzen verbunden und richten langfristigen Schaden aus.
In der Schweiz bildet sich nach und nach ein Bewusstsein für Rassismus. Es besteht jedoch immer noch kein gesamtgesellschaftlicher Konsens darüber, dass die Ursachen von Rassismus eng mit den Werten, Normen und Praktiken innerhalb gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen verwoben sind – und über das Handeln einzelner Personen hinausgehen. Vor allem die Politik und die Entscheidungsträgerinnen und -träger in Institutionen und Organisationen müssen ihre Haltung gegenüber der Bekämpfung von Diskriminierung ernsthaft prüfen und Rassismus als strukturelles, institutionelles und gesamtgesellschaftliches Problem anerkennen, behandeln und Massnahmen ergreifen, um dagegen vorzugehen.
Das Beratungsnetz für Rassismusopfer widmet sich weiterhin aufmerksam dem Monitoring von Fällen, bei welchen eine rassistische Diskriminierung oder ein rassistisches Motiv vorliegen oder nicht ausgeschlossen werden können. Das Netzwerk ist bestrebt, versteckte Fälle struktureller Diskriminierung anhand einer anschaulichen Datenlage besser zu verstehen und sichtbar zu machen – insbesondere auch, um die Gesamtgesellschaft zu sensibilisieren. Es darf nicht vergessen gehen, dass wir alle die Verantwortung dafür tragen, die vorherrschenden Normen, Abläufe und Routinen zu hinterfragen, einen kritischen Blick auf deren Konsequenzen für die dadurch benachteiligten Menschen zu werfen und Rassismus in all seinen Dimensionen aufzubrechen.
Dieser Beitrag wurde im Oktober 2022 im TANGRAM 46, einer Zeitschrift der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus EKR, publiziert. Weiterführende Informationen sowie die Bibliographie zu diesem Text finden sich hier.
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