Der Spiegel
ist der Ozean
der Seele
die kleine Sonne
im Gemüt
geht zur Geburt
am Morgen
später
zum ihrem
Abend hin
wir sind Gefallene
dem Muttermund
das Wesen
eines Kindes
tut sich
darin kund
die Welt
im Innersten
und draussen
wartet ihm
zu seinem
Werden frohgemut
der erste Blick
zur Mutter
die es mit
den Augen segnet
macht es zum
Menschen
der Welt
und für
das All
Spiegelungen
I
O schöner Glanz des scheuen Spiegelbilds!
Wie darf es glänzen, weil es nirgends dauert.
Der Frauen Dürsten nach sich selber stillts.
Wie ist die Welt mit Spiegeln zugemauert
für sie. Wir fallen in der Spiegel Glanz
wie in geheimen Abfluß unseres Wesens;
sie aber finden ihres dort: sie lesens.
Sie müssen doppelt sein, dann sind sie ganz.
Oh, tritt, Geliebte, vor das klare Glas,
auf daß du seist. Daß zwischen dir und dir
die Spannung sich erneue und das Maß
für das, was unaussprechlich ist in ihr.
Gesteigert um dein Bild: wie bist du reich.
Dein Ja zu dir bejaht dir Haar und Wange;
und überfüllt von solchem Selbstempfange,
taumelt dein Blick und dunkelt im Vergleich.
II
Immer wieder aus dem Spiegelglase
holst du dich dir neu hinzu;
ordnest in dir, wie in einer Vase,
deine Bilder. Nennst es du,
dieses Aufblühn deiner Spiegelungen,
die du eine Weile leicht bedenkst,
eh du sie, von ihrem Glück bezwungen,
deinem Leibe wiederschenkst.
III
Ach, an ihr und ihrem Spiegelbilde,
das, wie Schmuck im schonenden Etui,
in ihr dauert, abgelegt ins Milde, —
ruht der Liebende; abwechselnd sie
fühlend und ihr inneres Geschmeid ...
Er: kein eignes Bild in sich verschließend;
aus dem tiefen Innern überfließend
von gewußter Welt und Einsamkeit.
Rainer Maria Rilke, 1875-1926
http://www.gedichte-lyrik-poesie.de/Rilke_Spiegelungen/index.html