Freitag, 13. November 2015

Begegnung

Begegnung

Vom Tage blind
dem Dunkel
dass am Abend 
bald erwacht
das blaue Augenpaar
dass leise 
seine Wange grüsst

Die Sonne 
dem Lichtglanz
auf der Haut
die letzten Strahlen
im Gesicht
hinab an ihrer
frühlingshaften Gestalt

Die Schatten
werden länger
mit jedem Schritt
doch eine unbekannte
tiefe selige Wärme
geht mit beiden
tief ins Gemüt
der grossen Seele mit

Der Abschied
wiegt sich beiden schwer
ein Lispeln von
den Lippen
ein Augenschlag
berührt von 
schüchternen Händen
es war davor nie
jetzt bleibt es 
beiden für immer

Begegnung in der Kastanien-Allee

Ihm ward des Eingangs grüne Dunkelheit
kühl wie ein Seidenmantel umgegeben
den er noch nahm und ordnete: als eben
am andern transparenten Ende, weit,

aus grüner Sonne, wie aus grünen Scheiben,
weiß eine einzelne Gestalt
aufleuchtete, um lange fern zu bleiben
und schließlich, von dem Lichterniedertreiben
bei jedem Schritte überwallt,

ein helles Wechseln auf sich herzutragen,
das scheu im Blond nach hinten lief.
Aber auf einmal war der Schatten tief,
und nahe Augen lagen aufgeschlagen

in einem neuen deutlichen Gesicht,
das wie in einem Bildnis verweilte
in dem Moment, da man sich wieder teilte:
erst war es immer, und dann war es nicht

Rainer Maria Rilke, Sommer 1908 (vor dem 15.7.), Paris
http://rainer-maria-rilke.de/090069kastanienallee.html

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