Samstag, 29. Oktober 2022

Alexander Carmele

Nach dem von vielen, aber vor allem von der Postmoderne und dort insbesondere von Jean-François Lyotard besungenen Ende der großen Erzählungen strebt in Theorie wie Literatur, in Philosophie wie in Romanen die Sprache statt Holizität nun Authentizität an. Nicht in großen, alles umfassenden Entwürfen, vielmehr in Splittern, Miniaturen, schiefwinkligen Einblicken werden Momentaufnahmen verfasst. Die Authentizität stellt sich dem Versuch, ungeminderte Realität wiederzugeben. Wüst, schmerzhaft, gebrochen, hoffnungsvoll beschwingt oder hoffnungslos resignativ heftet sich der Blick ans Unscheinbare, an die Lücke, um die sich das Wesentliche schließt:

Draußen war plötzlich alles unwirklich. Wir liefen nebeneinanderher, mitten auf der Straße, und näherten uns dem Ende der Passage Cardinet, wo die Mauer eines Hauses die Sicht versperrte und nur einen Streifen Licht einfallen ließ. Die Szene läuft langsam ab, es wird allmählich dunkel. Nichts aus meiner Kindheit, meinem bisherigen Leben hat mich hierhergeführt.

Annie Ernaux aus: „Das Ereignis“

Annie Ernaux‘ Ich-Erzählerin rekapituliert in Das Ereignis, wie sie im Frankreich der 1960er Jahre unter schmerzhaftesten Qualen und Umständen einen Schwangerschaftsabbruch herbeiführen ließ. Er findet in der besagten Passage Cardinet statt und wird von einer zwielichtigen Hilfskrankenschwester durchgeführt, die in einer privaten Klinik arbeitet und sich mit zu der Zeit staatlich untersagten Schwangerschaftsabbrüchen Geld hinzuverdient. Ein Vertrauensverhältnis zwischen der Ich-Erzählerin und Madame P.-R., der Hilfskrankenschwester, entsteht nicht. Im Gegenteil:

Wir begegneten Passanten, ich hatte den Eindruck, sie starrten mich an und wüssten, was wir getan hatten. Ich fühlte mich von aller Welt verlassen, außer von dieser alten Frau im schwarzen Mantel, die neben mir ging, als wäre sie meine Mutter. Im Straßenlicht, außerhalb ihres Unterschlupfs, fand ich sie und ihre gräuliche Gesichtsfarbe abstoßend. Meine Retterin sah aus wie eine Hexe oder eine alte Zuhälterin.

Die Erzählung findet auf zwei Ebenen statt, im narrativen Nachvollzug (die erzählte Zeit), und im Rückblick (die Erzählzeit). Hinzugenommen werden, als Gedächtnisstütze, kurze Einträge aus dem Tagebuch und einem Taschenkalender. Zwischen der Nacherzählung, den zur erzählten Zeit verfassten Notizen und den zur Erzählzeit sich ergebenden Reflexionen pendelt der Bericht hin und her, und zwar in steter Unsicherheit, dem Ereignis auf diese Weise näherkommen zu können. Die Ebenenwechsel im empathischen Nachvollzug geben Zeugnis von der Bemühung, dem Bericht größtmögliche Authentizität zu verleihen. Das schreibende Ich trennt, vivisektiert, reflektiert mit und für und gegen das beschriebene Ich, um in dieser sich trennenden und vereinigenden Bewegung Knotenpunkte der Synchronizität zu erzeugen:

Beim Schreiben muss ich manchmal dem Drang widerstehen, in einen wütenden oder schmerzerfüllen Lyrismus zu verfallen. Ich will in diesem Text nicht tun, was ich im echten Leben nicht getan habe oder nur ganz selten, schreien und weinen. Stattdessen nah dranbleiben am Gefühl eines gleichmäßig dahinfließenden Unglücks, ausgelöst von der Frage einer Apothekerin und vom Anblick einer Haarbürste neben einer Wasserschüssel, in der eine Sonde schwimmt. Denn die Erschütterung, die ich empfinde, wenn ich die Bilder aus jener Zeit vor mir sehe, wenn ich die Worte noch einmal höre, hat nichts damit zu tun, wie ich damals empfand, es ist nur ein Schreibgefühl. Damit meine ich: ein Gefühl, das das Schreiben ermöglicht und seine Wahrhaftigkeit garantiert.

In diesem Zitat verdichtet sich die gesamte Problematik von Dichtung und Wahrheit, der sich die Ich-Erzählerin ungemindert exponiert. Das Ereignis liest sich von Seite zu Seite implosiv, zerschmetternd, auseinandergestoben. Kurze Absätze reihen sich. Kurze Sätze, winzige Impressionen, sofort beendete Erinnerungsphasen erzeugen einen steten Hiatus, ein Staccato des Schmerzes, der Verlorenheit, der Angst und Wut. Die Ich-Erzählerin dreht sich bewusst um sich selbst. Sie sucht eine Perspektive, einen Weg aus dieser Sackgasse des Schmerzes, aber findet keinen. Das Rezitativ läuft weiter. Das Schreiben legt sich auf die Wunde, ohne sie zu schließen. Es ist nur ein Verband, eine Abdichtung einer klaffenden, nicht mehr heilenden Verletzung, die unter den Worten, den Reflexionen, den herangezogenen Vergleichen puckert und bebt und die Ich-Erzählerin in einem Zustand der Aufgelöstheit belässt. Ernaux‘ Erzählerin kämpft gegen das Gefängnis des Privaten an, dem Schmerz schlechthin, der nicht geteilt, mitgeteilt, nicht in seiner Intensität und Besonderheit ausgedrückt zu werden vermag. Hannah Arendt schreibt hierzu in Vita activa:

 Dies [der Vertrauensverlust in die wirkliche Welt] lässt sich am besten daran exemplifizieren, dass die intensivste uns bekannte Empfindung, die Erfahrung starker körperlicher Schmerzen, deren Intensität alle anderen Gefühle auslöscht, gleichzeitig die privateste aller Erfahrungen ist; sie lässt sich schlechterdings nicht mehr mitteilen, beziehungsweise so umformen, dass sie der Mitteilung zugänglich wäre. Aber der Schmerz ist nicht nur die vielleicht einzige Empfindung, die überhaupt ungestaltbar ist und daher in der Öffentlichkeit nie in Erscheinung treten kann; er beraubt uns zugleich unseres Realitätsgefühls in einem solchen Maße, dass wir nichts anderes schneller und leichter vergessen können als gerade die unübertreffbare Intensität, mit der er einen kürzeren oder auch längeren Zeitraum unseres Lebens im wahrsten Sinne des Wortes ausfüllte.

Hannah Arendt aus: „Vita activa“

Diese nach Arendt konstatierte Unmöglichkeit nimmt Ernaux als Herausforderung an. Sie weiß ob der flüchtigen Zeit und der sich nicht deckenden, sich nicht synchronisierenden Zeitebenen. Die Vergangenheit als solche bleibt im Verborgenen und Ungestalteten. Um sie zu evozieren, um die Erinnerung an den Schmerz herbeizurufen, zwingt sie sich zur Ruhe, zur Besonnenheit, legt sie sich äußere Zwänge auf, um anhand ihrer Schreibregel Zugang zu den dunklen Erinnerungsversatzstücken zu bekommen, die in ihr schlummern und verschwinden würden, erginge sie sich im dozierenden, überschwänglichen Lyrismus. Dem Schwung des Schreibens misstraut sie. Hieraus erklären sich das Rezitativ der Ich-Erzählerin, die Blöcke, Einsprengsel, die Mischformen, die Das Ereignis charakterisieren.

Ich war nicht in der Lage, zu lesen oder Schallplatten zu hören. Ich nahm ein Blatt Papier und zeichnete die Passage Cardinet, wie ich sie gesehen hatte, als ich das Haus der Engelmacherin verließ, hohe Mauern, die hinten zusammenlaufen, am Ende ein Riss. Zum ersten und einzigen Mal in meinem Erwachsenenleben hatte ich das Bedürfnis, etwas zu zeichnen.

Kurz nach dem Ereignis greift also das erzählte Ich nicht zum Bleistift, um zu schreiben, sondern um zu zeichnen. Das Sprachmisstrauen steht noch in voller Blüte. Die Gefühle, zu stark für das Wort, entladen sich in der Skizzierung eines Fluchtpunktes in einer Sackgasse, der Impasse Cardinale, die nur einen winzigen, schmalen Riss als Ausweg verkündigt. Durch diese enge Gasse muss das Gefühl, um sich in Worte fassen zu können, gehen. Wie ein Filter, eine Blockade, wird alles andere, der Strom des Schmerzes, des Leidens, der mächtige Fluss der Gefühle aufgehalten und zu einem Rinnsal zusammengedrängt. Hinter der Mauer, dem Riss, steht das Erzähl-Ich und blickt zurück. Nun vermögen Worte zu berichten, aber verbleiben im Unsicheren:

Beim Schreiben stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Beweis: Abgesehen von meinem Tagebuch und meinem Kalender habe ich, so scheint mir, keinerlei Gewissheit über meine damaligen Gedanken und Gefühle, weil das, was uns durch den Kopf geht, immateriell und flüchtig ist.

Das, was durch den Kopf geht, besteht aus Begriffen, Wörtern, Sätzen. Das Erzähl-Ich vertraut im Grunde nur den Bildern, nur der farblichen Kontrastierung und visuellen Intensifikationen. So schreibt es ein paar Seiten später:

Wenn ich dieses Ereignis meines Lebens in einem einzigen Gemälde darstellen müsste, würde ich einen kleinen Resopaltisch vor einer Wand malen und eine Emailschüssel, in der eine rote Sonde schwimmt. Rechts davon eine Haarbürste. Ich glaube nicht, dass in irgendeinem Museum dieser Welt eine Werkstatt der Engelmacherin hängt.

Hier äußert sich das Misstrauen in die ungeschriebenen Gesetze der bildenden Kunst und implizit die Hoffnung, dass das Geschriebene vielleicht Eingang in die Bibliotheken findet, also das vermag, was sie dem Gemälde nicht zutraut, nämlich ein Publikum zu erreichen. Auf diese Weise durchkreuzen sich zwei Verfahren in Ernaux‘ Kurzroman Das Ereignis. Das Bild als Ausdrucksform der Wahl wird zurückgedrängt in die lineare Reihung der Sätze und Wörter, die das Ereignis umschreiben. Das geheime Zentrum des Textes bildet dieser Schmerz, der durch die Zeilen hindurchschimmert. Das Erzähl-Ich projiziert sich in die ungewisse, dunkle Vergangenheit und beschwört sie herauf.

Ich zögere zu schreiben: Ich sehe das Métropole vor mir, den kleinen Tisch, an dem wir saßen, in der Nähe der Tür zur Rue Verte, den stoischen Kellner namens Jules, den ich damals mit dem Kellner aus Das Sein und das Nichts assoziierte, der kein Kellner ist, sondern nur einen spielt etc. Denn etwas in der Vorstellung oder in der Erinnerung zu sehen, ist die Grundlage jedes Schreibens. Aber »ich sehe es vor mir« beschreibt den Moment, wenn ich das Gefühl habe, zu jenem anderen Leben vorzudringen, dem vergangenen, verlorenen Leben, ein Gefühl, das der spontane Ausspruch »es ist, als wäre ich immer noch dort« treffend übersetzt.

Das Erzähl-Ich zögert, weil es eben nicht mehr dort ist. Um jedoch die Zeit zu beschreiben, muss sie die Rolle spielen derjenigen, die dort saß. Diese Rolle jedoch durchzieht sich mit dem bewusst vollzogenen Unmöglichkeitsversuch zu vergessen, dass diese Rolle eingenommen, nicht vollständig ist noch sein kann, denn es begleitet sie das Bewusstsein, als Rolle, eben nicht mehr dort zu sein. Ihr Zögern läutert den Versuch, aber lässt ihn im selben Atemzug scheitern, wie Jean-Paul Sartre in der von Ernaux erwähnten Stelle schreibt:

Das sind Vorkehrungen, die den Menschen in dem einsperren sollen, was er ist. Als ob wir in der ständigen Furcht lebten, dass er daraus entweicht, dass er plötzlich aus seiner Stellung herausspringt und sie umgeht. Aber parallel dazu kann ja der Kellner von innen her nicht unmittelbar Kellner sein, so wie dieses Tintenfass Tintenfass ist oder das Glas Glas ist. Er kann durchaus reflexive Urteile oder Begriffe über seine Stellung haben. Er weiß genau, was sie «bedeutet» […]

Jean-Paul Sartre aus: „Das Sein und das Nichts“

Genausowenig kann das Erzähl-Ich mit dem erzählten Ich konvergieren. Es bleibt stets die Bedeutung zwischen ihnen, nämlich die, die das Erzähl-Ich dem erzählten Ich verleiht, die es diesem aber jederzeit aufkündigen kann. Das erzählte Ich bleibt dem Erzähl-Ich ausgeliefert, egal wie viele Kalendereinträge und Tagebuchnotizen es für sich in Beschlag nehmen kann. Und hierin entzündet sich der Schmerz, der als Stellvertreter für den erinnerten Schmerz in der Erzählgegenwart fungiert. Das Erzähl-Ich vollzieht noch einmal das an dem erzählten Ich, was es bereits im Ereignis selbst erfuhr. Es wird zum Objekt degradiert, mit Werkzeugen malträtiert, verwundet und mit seinem Schmerz allein gelassen. Das Erzähl-Ich blickt von außen auf die Geschehnisse. Es schwebt über den Dingen. Auf diese Weise evoziert Annie Ernaux den Schmerz als erzählerische Form, den sie als Inhalt verfehlen muss. Die Bedeutung verpufft in der Intensität der Ereignisse, und so schließt sich der Kreis. Das Erzähl-Ich geht noch einmal in die Passage Cardinet. Sie erreicht das Haus der Hilfskrankenschwester nun Jahrzehnte später:

Ich blieb vor der Tür stehen, sie war verschlossen, man brauchte einen Zahlencode. Ich ging weiter, mitten auf der Straße, den Blick auf das Ende gerichtet, auf den Lichtspalt zwischen den Häuserwänden. Ich begegnete niemandem, kein Auto fuhr vorbei. Ich hatte das Gefühl, eine Figur zu spielen, ohne dabei etwas zu empfinden.

Die Ereignisse bleiben hinter Schloss und Riegel. Das Sesam-Öffne-Dich wurde nicht gefunden. Das Licht, das aus dem Riss erstrahlt, ist das befreiende Wort, die Hoffnung auf einens Frieden, der sich sprachlich nicht finden lässt, denn das, was dort passiert ist, wirft seinen langen Schatten über die gesamte Existenz des Erzähl-Ichs. Es bleibt bedroht und ausgeliefert. Das Ereignis hat alles verändert. Der Schmerz bleibt bestehen, solange die Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht, das Erzähl-Ich souverän über das erzählte Ich verfügt, das erzählte Ich sich nicht aus dem Formwillen des Erzähl-Ichs befreien vermag, um seinen eigenen, freien Weg zu gehen. Annie Ernaux’ Roman legt auf diese Weise Zeugnis einer bitteren und unheilbaren Verletzung ab.

Der Schmerz, der der Totenstarre gleich; so der Mensch die Furcht und Angst vor sich selbst, sich dagegen rüstet, tagtäglich mit seinen Sinnen sich dagegen stemmt, das unfassbar Bedrohende aus seinem Wesen, von seiner Haut zu verbannen sucht. 

Der Schmerz im Blutschrei zur Geburt, die Höllenqualen zwischendurch, dann vor dem letzten Atemzug. 

Was die Frau als Mutter ertragen muss, kein Mann, niemand anderem wird ihr Ereignis, ihre Not, ihr Leid bis in ihr Innerstes erkannt und dem bewusst, auch wenn die Frau von ihrer Erfahrung, aus Ereignissen aus ihrem Leben davon spricht.

Die Erinnerungen zur Untat und zur Tat, sie sind in der Seele nicht auszulöschen. Die Seele gibt sie täglich preis, auch wider und quer gegen den stoischen Hochsitz in der eigenen Gedankenwelt.

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