Terre des Hommes
Afghanistan: Mitten im Chaos Leben schenken
In Afghanistan entbinden jeden Monat 100’000 Frauen unter oft äusserst prekären Bedingungen. Seit der Machtübernahme der Taliban im August sind die Gesundheitsleistungen drastisch eingeschränkt, Ärzte und Ärztinnen verlassen das Land, es fehlt an Medikamenten. Viele Frauen können es sich nicht mehr leisten, ins Spital zu gehen, und müssen zu Hause gebären.
«Die Wehen setzten in der Nacht ein. Ich glaubte, dass die Geburt nicht gut verlaufen würde, weil ich sehr schwach war.» Nooria* sitzt würdevoll im Schneidersitz da und hält ihre schlafende anderthalb Monate alte Tochter in den Armen. Gedämpftes Licht dringt durch die bestickten Vorhänge am kleinen Fenster. Die hellblauen Wände und die am Boden liegenden Kissen schaffen eine sanfte Atmosphäre. Nooria lebt mit ihren drei Kindern und ihrem Mann in diesem zwölf Quadratmeter grossen Raum. Die beiden anderen Zimmer in dem alten Haus gehören den Familien ihres Schwagers und ihres Schwiegervaters. Alle teilen sich ein kleines Badezimmer.
Wir befinden uns in der Umgebung von Kabul, in Afghanistan. Die Taliban sind seit August wieder an der Macht. «Die Situation wird von Tag zu Tag schlimmer», berichtet Nooria. «Es gibt keine Arbeit mehr, wir können uns nichts mehr zum Essen und zum Anziehen kaufen.» Laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen sind 97 Prozent der afghanischen Bevölkerung gefährdet, unter die Armutsgrenze zu fallen, wenn angesichts der politischen und wirtschaftlichen Krise des Landes nicht schnell eine Lösung gefunden wird.1
Wenn es keine Gesundheitsversorgung mehr gibt
«Das gesamte Gesundheitssystem ist betroffen. Bereits vor Ankunft der Taliban war die Situation nicht ideal. Jetzt ist sie aber noch schlimmer. Die meisten Ärzte und Ärztinnen sind weggegangen. Es gibt keine Medikamente mehr. Die Behandlungskosten sind sehr hoch», erklärt Dr. Noorkhanum Ahmadzai, Hebamme und Leiterin des Gesundheitsprojekts für Mutter und Kind von Terre des hommes (Tdh) in Afghanistan. Dennoch kriegen jeden Monat weiterhin 100’000 Frauen Kinder. «Die Geburtskliniken nehmen aber nur noch Notfälle auf und akzeptieren keine Frauen mehr, deren Entbindung als normal betrachtet wird. Es gibt deshalb immer mehr Hausgeburten.»
"Wir spüren die Gefahr. Aber wir haben keine Wahl, wir müssen unsere Arbeit fortsetzen."
Rahela, Hebamme in Afghanistan
Nooria hat zu Hause entbunden. «Ich konnte nicht ins Spital gehen, weil ich nicht die Mittel dazu hatte. Ich rief frühmorgens die Hebamme an. Sie kam mit Medikamenten zu mir. Sie hat mir geholfen und die Geburt ist gut verlaufen.» Bei ihrer Hebamme handelt es sich um Khadija*. Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet sie bei Tdh in Afghanistan, um Frauen, die während der Schwangerschaft und für die Geburt kein Spital aufsuchen können, zu Hause zu betreuen. Sie hat sich für ihren Beruf entschieden, weil ihre beiden Grossmütter im Wochenbett gestorben sind.
Die Hebamme Khadija (rechts) wiegt das Baby von Nooria (links).
Der Mut der Hebammen
«Wir betreuen die Frauen und die Babys ab der zwölften Schwangerschaftswoche bis sechs Monate nach der Geburt. Wir machen Routineuntersuchungen und kontrollieren den Blutdruck, den Puls und die Anämie», erläutert Khadija. Diese Arbeit wird gemäss dem Protokoll der Weltgesundheitsorganisation durchgeführt. «Wir bringen ihnen auch bei, ihren Säugling zu pflegen, sich richtig zu ernähren, sich um die eigene Gesundheit und diejenige ihres Kindes zu kümmern. Wir zeigen ihnen Hygieneregeln, bereiten sie auf die Geburt vor und sprechen mit ihnen über das Stillen.»
Der Blutdruck wird bei jedem Besuch kontrolliert.
Ein einzigartiger Ansatz
«99 Prozent der Personen, denen wir helfen, können weder lesen noch schreiben, haben weder Arbeit noch Bildung und leben in äusserster Armut. Bei der ersten Begegnung sind die Frauen manchmal nicht einmal in der Lage, sich vorzustellen, so gross ist ihr psychisches Leid. Nach mehreren Besuchen und Diskussionen gelingt es ihnen allmählich, ihre Gefühle zu äussern. Wie soll sich eine Frau um ihr Kind kümmern, wenn sie sich nicht einmal um die eigene Gesundheit kümmern kann? Leider verschlimmert sich diese Situation seit der Ankunft der Taliban», fügt Dr. Noorkhanum an.
«Unsere Hebammen gehen von Tür zu Tür, um sich vorzustellen und zu fragen, ob schwangere oder stillende Frauen im Haus leben», fährt Dr. Noorkhanum fort. Nooria erzählt: «Als Khadija zu mir kam, wusste ich sofort, wer sie war. Sie hatte vor Jahren bereits meiner Schwiegermutter bei der Entbindung geholfen.» Der Ansatz von Tdh ist in der Region einzigartig. Anstatt in Spitälern oder Gesundheitszentren zu arbeiten, sind unsere medizinischen Teams mobil und gehen dorthin, wo die Menschen leben. Für die meisten dieser Frauen ist es die einzige Unterstützung, die sie erhalten.
Die vollständige Reportage finden Sie hier.
1www.undp.org/press-releases/97-percent-afghans-could-plunge-poverty-mid-2022-says-undp
*Die Namen wurden aus Sicherheitsgründen geändert.