Sonntag, 27. November 2022

Marc Chesney

Die Finanzkrise ist nicht ausgestanden sie hat sich auf Dauer als Krise der Werte eingerichtet. Der Titel dieses Buches überrascht vielleicht. Von einer ständigen Krise zu sprechen, während in den Medien sehr häufig vom Wiederaufleben des Wirtschaftswachstums die Rede ist, scheint paradox. Dass dieses Wirtschaftswachstum vor allem auf einer Explosion der weltweiten Schulden basiert und deswegen künstlich ist, wird nicht erwähnt. Kursanstiege an den Börsen werden durch die Zentralbanken erzeugt, die ­astronomische Summen in den Finanzsektor einschießen, sowie durch die riesigen Aktienrückkäufe von großen Unternehmen. Der Finanzsektor koppelt sich zunehmend nicht nur von der Realwirtschaft ab, sondern dominiert auch die Volkswirtschaft und die Gesellschaft. Eine zentrale Rolle spielen in diesem Prozess die Großbanken und spekulativen Fonds. Marc Chesney zeigt Auswege, die weder auf deregulierten Märkten noch auf einem Staat, der die Wirtschaft kon­trolliert und lenkt und die Individuen überwacht, basieren. Seine Lösungen setzen auf ­aktive Bürgerinnen und Bürger, die ihr Schicksal selber in die Hand nehmen.

Marc Chesney /  Heuchlerische Welt-Leader reisten per Privatjet an Klima-Konferenz. Das Wirtschaften im Raubtier-Modus geht weiter.

Red. Marc Chesney ist Finanzprofessor an der Universität Zürich und Autor des Buches «Die permanente Krise – Der Aufstieg der Finanzoligarchie und das Versagen der Demokratie».

Die COP-Kumpane sind einmal mehr zusammengetroffen zur COP27 in Ägypten. Sie haben sich zweifellos darüber gefreut, dass fast keine ihrer Umweltversprechen umgesetzt wurden. Wie jedes Jahr handelte es sich dabei im Grunde um ein Nicht-Ereignis voller Nicht-Entscheidungen. Um ihr Image trotzdem zu bewahren und erhebliche Mengen an Treibhausgasemissionen zu vermeiden, hätten die führenden Politikvertreter dieser Welt und ihre Lobbyisten-Buddies aus dem fossilen Energiesektor und aus der Finanzwelt statt mit Präsidentenfliegern und Privatjets per Kamel anreisen können. 

Da die Party erst am 19. November zu Ende ging und der FIFA-World Cup am 20. November begann, hätten sie dann problemlos von Sharm El Sheikh nach Doha in einer (dollar-)grünen Karawane weiterziehen können, um dort einer angeblich CO2-neutralen Fussball-Weltmeisterschaft beizuwohnen. 

Dieser völlig emissionsfreie Transfer der Grossen dieser Welt im Dunstkreis von Zynismus und Käuflichkeit hätte dann die Aufmerksamkeit vom Erdenball zum runden Leder verschoben. Unterwegs hätten sie ihren Durst nach flüssigen Mitteln passenderweise in einer «Coca-Cola-Oase» stillen können, bei einem Konzern also, der die COP27 sowieso schon sponsert. 

Als Versuch, die Normalsterblichen von ihren Nöten und vom desolaten Zustand unserer Erde abzulenken, hätte dieser Kamel-Zug durch die Wüste ihr Image garantiert aufpoliert!

Not und Spiele

Das Jahr endet also mit der Fussball-Weltmeisterschaft in Katar, einer willkommenen Abwechslung – wären nicht Tausende Gastarbeiter umgekommen, wäre da nicht der kolossale und absurde Energieverbrauch zur Klimatisierung der Stadien und wären nicht die geplanten rund 500 täglichen Flüge, damit die Fans ihre Lieblingsmannschaft vor Ort anfeuern können. Die angebliche CO2-Neutralität dieses World Cup gleicht einer Fata Morgana.

Während die COP-Kumpane wegen des Klimawandels Besorgnis heucheln, erteilen grosse internationale, oft «nachhaltige» Banken den Konzernen wie Shell und TotalEnergies grosszügige Kredite, die das schamlose Ausbeuten der Ressourcen in der Arktis und damit eine unwiederbringliche Zerstörung der Natur erst ermöglichen. 

Finanzinstitute finanzieren das Abholzen von Urwald

Denn während die COP-Kumpane auf die Zukunft der Erde anstossen, finanzieren einige Finanzinstitute, darunter auch schweizerische, zur Freude von Jair Bolsonaro brasilianische Agrarkonzerne wie BrasilAgro und Marfrig, die sich an illegaler Abholzung im grossen Stil, an Umweltzerstörung und Menschenrechtsverstössen beteiligen. 

Just währenddem die COP-Kumpane sich gegenseitig auf die Schulter klopften, hat TotalEnergies mit seinen Partnern in Absprache mit der ugandischen Regierung endgültig entschieden, in ein riesiges Erdölförderungsprojekt zu investieren und gleichzeitig dessen Baubeginn angekündigt. Dazu gehört eine Pipeline, die entlang des grössten afrikanischen Sees verläuft, mehrere Schutzgebiete für Elefanten, Löwen und Schimpansen durchquert und zahlreiche natürliche Lebensräume vernichtet. Auch fast 100‘000 Menschen werden dabei zwangsenteignet. Dieses Projekt ist so extrem fragwürdig, dass viele Finanzinstitute Kredite verweigerten. Doch nach Angaben von BankTrack haben sich die Deutsche Bank, JPMorgan und einige andere noch immer nicht öffentlich von einer Finanzierung des 3-Milliarden-Projets distanziert.

Nur ja keine wesentlichen Massnahmen beschliessen, sondern sich zwischen zwei Glas Champagner heuchlerisch um den Zustand der Natur und den Klimawandel besorgt zu zeigen – diese Haltung ist bei den meisten Regierenden sowie den Chefs von Grossen Konzernen und systemrelevanten Banken verbreitet.

Dabei wäre es allerhöchste Zeit, die Augen zu öffnen und die erforderlichen Entscheide zu treffen. Die Hitzewellen die uns im letzten Sommer heimsuchten, das weltweite massive Artensterben, die Umweltverschmutzung: All das zeigt, wie besorgniserregend die Lage ist. Die Erdöl- und Erdgasbohrungen in Naturschutzgebieten und ihre Finanzierung müssen gestoppt werden, wie ganz allgemein das Wirtschaften im Raubtiermodus. 

Der Status quo ist nicht länger eine Option. Das Mass ist voll.

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