Freitag, 21. Oktober 2022

Greenpeace / Schweiz

Klimaschutz und Versorgungssicherheit in der Schweiz


Die Parlamentssitzung in diesem Herbst hat historische Ausmaße angenommen. Noch nie waren die Ziele, die sich die Parlamentarier in Sachen Energiewende und Klimapolitik gesetzt haben, so ehrgeizig. Dennoch sind diese Errungenschaften schwer zu feiern, da sie mit drastischen Kürzungen der Umweltgesetzgebung und einem von der Öllobby unterstützten Referendum einhergehen. Damit die Schweiz ihre Klimaziele erreicht, sind noch viele Kämpfe zu führen. Aber wir bleiben konsequent auf Kurs, um die Energiewende zum Erfolg zu führen, ohne das Risiko für die Biodiversität zu erhöhen. Genau deshalb wollen wir auf die letzten Monate zurückblicken, die von entscheidender Bedeutung waren:



Auch wenn unsere Forderungen endlich Gehör finden: gemischte Gefühle im Greenpeace-Büro

Am 25. Januar 2022 hat Greenpeace ein umfassendes Energieszenario für die Schweiz veröffentlicht. Anhand eines Modells mit einer 15-minütigen Simulation von Angebot und Nachfrage zeigten die von uns beauftragten Experten, wie Klimaschutz und Versorgungssicherheit in der Schweiz erreicht werden können – ohne die Biodiversität weiter zu gefährden. Fazit: Wir können (und müssen!) die Treibhausgasemissionen aus der Energieversorgung bis 2035 auf netto Null reduzieren, um die Erderwärmung auf 1,5°C zu begrenzen.


Es ist nicht das erste Mal, dass wir diese Übung durchführen: Greenpeace Schweiz hat bereits 2013 ein Gesamtenergieszenario veröffentlicht. Es ging also darum, unsere Analysen an die Veränderungen im Energiesektor, die neuen Erkenntnisse der Klimawissenschaft und die Umwelt anzupassen technologische Entwicklungen der letzten neun Jahre. Beide Szenarien haben eine wichtige Gemeinsamkeit: Sowohl 2013 als auch 2022 wird Solarenergie eine extrem wichtige Rolle für Klimaschutz und Versorgungssicherheit spielen. Energieeinsparung, Energieeffizienz und der Ausbau der Solarenergie auf die bestehende Infrastruktur sind zentrale Faktoren bei der notwendigen Umstellung auf die Unabhängigkeit von fossilen Energien und Kernbrennstoffen. Auch Wind und Biomasse sowie Solarthermie müssen intensiver genutzt werden.


Wiederbelebung der Klimapolitik


Als wir im Januar dieses Jahres unser Energieszenario veröffentlichten, waren seit dem Scheitern des CO2-Gesetzes in der Volksabstimmung vom 13. Juni 2021 etwas mehr als sieben Monate vergangen. Am 18. Juni 2021 veröffentlichte der Bundesrat seine Botschaft zur Revision des Energiegesetzes und das Stromversorgungsgesetz. Beide Gesetze werden im „Bundesgesetz zur sicheren Stromversorgung aus erneuerbaren Energien“ zusammengeführt und nun in der Herbstsession 2022 beraten. Der Bundesrat hat in seiner Botschaft das Ziel für den Ausbau der neuen erneuerbaren Energieerzeugung auf 17 TWh/Jahr bis 2035 festgelegt. Auch die Gletscherinitiative – an deren Aufbau Greenpeace mitgewirkt hat – sorgt dafür, dass der Klimaschutz weitergeht.


Unser Energieszenario hat deutlich gemacht, dass die vom Bundesrat angestrebten Ziele viel zu tief sind. Damit können weder die Klimaschutzziele noch eine sichere und unabhängige Versorgung erreicht werden, weshalb wir den Ständerat aufgefordert haben, die erneuerbaren Energien bis 2035 auf 38 TWh/Jahr zu steigern.


Weil Solarenergie für den von uns geforderten Umbau des Energiesystems – bis 2035 sollen 30 TWh/a der benötigten 38 TWh/a aus der Sonne kommen – unabdingbar ist, haben wir im Januar unsere Aktion „Solarsprint“ gestartet. Die Petition mit diesen Forderungen zählte bis zur Einreichung zu Beginn der Herbstsession 20.000 Unterschriften. Als wir diese Kampagne starteten, wussten wir, dass es ein harter Kampf werden würde. Eine schnellere Energiewende mit forciertem Ausbau der Photovoltaik konnte im Schweizer Parlament noch keine Mehrheit finden. Der Streit um die Nutzung der letzten verbliebenen intakten Wasserressourcen wurde bevorzugt. Auch in der Öffentlichkeit stießen wir auf Skepsis: Einige Journalisten, die über die Veröffentlichung unseres Energieszenarios berichten, fragen sich, ob unsere Forderungen realistisch sind.


Gleichzeitig trat die Gletscherinitiative in die parlamentarische Phase ein: Sie sollte dafür sorgen, dass der vollständige Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe endlich die Schweiz erreicht.


Öl und Gas: der Motor der russischen Aggression


Das Ereignis, das die Meinung zugunsten erneuerbarer Energien beeinflussen wird, findet weniger als einen Monat nach dem Start unserer Kampagne statt. Am 24. Februar befahl Wladimir Putin den Einmarsch in die Ukraine. Erstmals seit mehr als zwei Jahrzehnten bricht auf europäischem Territorium ein Krieg aus. Die Länder der Europäischen Union und die Schweiz erkennen schnell, dass dieser Krieg Folgen für die Energieversorgung haben wird. Die Schweiz ist, wie die meisten ihrer Nachbarn, in Beziehung zu ihrerEnergieversorgung von Russland abhängig: 47% des in die Schweiz importierten Gases stammt aus Russland und drei der vier in Betrieb befindlichen Schweizer Atomreaktoren werden noch mit russischem Uran betrieben. Das Geld, mit dem die Granaten bezahlt werden, die ukrainischen Städte und Landstriche zerstören, stammt größtenteils aus Russlands Öl- und Gasexporten.


Die Schweiz, die Russland für Energieimporte täglich mehrere Millionen zahlte, wurde plötzlich aufgerüttelt: Eine Politik, welche auf billige fossile Energieträger setzt, dadurch die bitter nötige ambitionierte Klimapolitik blockiert und einen schnellen Ausbau der erneuerbaren Energien verhindert, scheint nun nicht mehr tragbar. Während der ersten Kriegsmonate und bis August explodierten die Gaspreise und liessen die europäische und die Schweizer Wirtschaft das Schlimmste befürchten. Für uns ist klar, dass der Ausbau der Solarenergie und die Beschleunigung der Energiewende nicht nur gut für das Klima sind, sondern auch unsere Abhängigkeit von fossilen Energieimporten überwinden und den Frieden fördern können. Daran erinnerten Greenpeace-Aktivist:innen im Juni die politischen Entscheidungsträger:innen mit einem einheitlichen Sonnenbild und der Friedenstaube auf dem Bundesplatz in Bern.



Solar4Peace, Juni 2022

Da auch die Solarenergie-Schäden verursacht, zeigen wir in einem detaillierten Themenschwerpunkt auf, warum sie dennoch die bessere Lösung ist und was wir tun sollten, um die Schäden zu verringern. Auch diese Informationen schicken wir an den Ständerat.


Atomkraft wird das Klima nicht retten


Eine weitere Krise verstärkt die Sorgen um das Schweizer Energiesystem: In Frankreich bricht die Produktion zusammen – Anfang September dieses Jahres waren 32 der 56 in Betrieb befindlichen französischen Atomreaktoren abgeschaltet. Während einige Reaktoren für lange geplante Wartungsarbeiten abgeschaltet wurden, Werden andere nach der Entdeckung von Korrosionsproblemen an den Kühlsystemen heruntergefahren. Auch der enorme Hitzesommer mit überhitzten und teilweise völlig ausgetrockneten Flüssen macht den Atomkraftwerken mit Wasserkühlung zu schaffen.


Von einem Tag auf den anderen explodieren die Strompreise sowohl für die Wirtschaft als auch für die Bevölkerung. Die Schweiz, die in den Wintermonaten auf Stromimporte gewartet IST, bereitet sich auf eine mögliche Strommangellage vor. Trotz des desolaten Leistungsausweises der Atomenergie forderte Mitte Juni eine von SVP-Ständerat Hansjörg Knecht eingereichte Motion, das Verbot des Baus neuer Atomreaktoren rückgängig zu machen. Sie wird von der kleinen Kammer abgelehnt. Angesichts der falschen Hoffnungen und Versprechungen, die immer wieder von der Atomlobby verbreitet werden, veröffentlichen wir auch einen Schwerpunkt zum Thema Atomenergie, in dem wir aufzeigen, dass diese nichts zur Lösung der Probleme beitragen können.



Die Regionalgruppe Basel protestiert vor dem Atomkraftwerk in Beznau, September 2022

Gemeinsame Position für Klima- und Biodiversitätsschutz


Ende Juni veröffentlichen die Organisationen der Umweltallianz – Greenpeace Schweiz, WWF Schweiz, Pro Natura und der Verkehrs-Club der Schweiz (VCS) mit den befreundeten Organisationen Birdlife Schweiz und der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES) ein gemeinsames Energieszenario für die Schweiz. This baut auf dem mittleren Szenario von Greenpeace auf und verstärkt die wichtige Botschaft, dass die Klimakrise sowie auch die Biodiversitätskrise gemeinsam gelöst werden müssen.


Ebenfalls im Juni, während der parlamentarischen Sommersession, vereinigt sich der Nationalrat auf einen indirekten Gegenvorschlag zur Gletscherinitiative, der ehrgeizig genug ist, um einen bedingten Rückzug zu ermöglichen.


Nach der parlamentarischen Sommersession richten sich alle Blicke auf die UREK-S. Mehr als ein Jahr nach der Botschaft des Bundesrates können sich die Kommissionsmitglieder immer noch nicht auf eine Richtung für das «Bundesgesetz über eine sichere Stromversorgung aus erneuerbaren Energien» einigen. Die Kommission verpflichtet sich, ihre Schlussfolgerungen im Sommer vorzulegen, damit der Ständerat endlich im Plenum entscheiden kann. Die Kommission hat somit mehrere Sitzungen in den Monaten Juli und August eines ganz besonderen Sommers anberaumt. In diesen beiden Monaten werden Dürre, Brände und Hitzewellen alle europäischen Länder und einen Grossteil der nördlichen Hemisphäre stark in Mitleidenschaft ziehen. Die Öffentlichkeit bekommt zum ersten Mal ein Gefühl dafür, welche Folgen eine Klimaveränderung haben könnte, und erkennt, dass der Sommer 2022 wahrscheinlich einer der kühlsten aller kommenden Sommer sein wird.


Herbstsession: Zwei Schritte vor, einen zurück


Zwischen der Veröffentlichung unseres Energieszenarios und dem Beginn der Herbstsession des Parlaments haben sich die Welt und die öffentliche Meinung stark verändert. Um noch einmal gut sichtbar zu zeigen, dass die Stunde der Solarenergie geschlagen hat, erinnern wir mit Zeitungsinseraten, die durch 4.500 Personen und von zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unterstützt wurden, daran, wie wichtig es ist, die Energiewende endlich voranzutreiben. Zeitgleich übergeben wir die Petition für den Solar-Sprint mit 20’000 Unterstützer:innen an das Schweizer Parlament – ​​und appellieren abermals an die Verantwortung der Parlamentarier:innen.


Drei Wochen nach der Übergabe unserer Petition für den Solar-Sprint wurden in der Herbstsession des Parlaments viele wichtige Entscheidungen getroffen. Einige davon waren sehr erfreulich: Das Produktionsziel für neue erneuerbare Energien wurde bis 2035 auf 35 TWh/Jahr festgelegt (wir hatten 38 TWh/Jahr gefordert). Ebenso wurden gute Ziele für die Reduzierung des Energieverbrauchs pro Person und Maßnahmen festgelegt, die es möglich machen, dass die Ziele auch tatsächlich erreicht werden. Zudem wird mit dem indirekten Gegenentwurf zur Gletscherinitiative das Netto-Null-Ziel im Gesetz verfolgt, die Förderung von Innovationen beschlossen und ein Sonderprogramm für den Ersatz fossiler Heizungen gesprochen. Letzteres ist nun ehrgeizig genug für einen bedingten Rückzug des Textes. Doch nun gilt es ein Déjà-vu zu verhindern, denn die SVP hat bereits angekündigt, dass sie das „Bundesgesetz über die Ziele im Klimaschutz, die Innovation und die Stärkung der Energiesicherheit“ mit Referendum bekämpfen WIRD.


Neben dem Mantelerlass für die sichere Versorgung mit erneuerbaren Energien, dem indirekten Gegenentwurf zur Gletscherinitiative, hat das Parlament noch ein Stück weiteres geliefert: das „Fördermittel“ sieht eine Solarpflicht bei Neubauten mit über 300 m2 Dachflächen vor (30 % der Neubauten), es soll den Ausbau der Photovoltaik in den Alpen vorantreibt und ganz konkret die Erhöhung der Staumauer am Grimsel erwähnt.


Damit kommen wir zu den Rückwärtsschritten. Es ist nicht nur aus Sicht der Gewaltentrennung falsch, in einem Gesetz konkrete Projekte zu erwähnen, das Gesetz ist insbesondere auch in Bezug auf Naturschutz und Raumplanung sehr problematisch. Der Verzicht auf die bewährte Planungspflicht und die grundsätzliche Änderung der Interessenabwägung zu Lasten des Naturschutzes sind rechtsstaatlich fragwürdig und dürfen sich nicht wiederholen. Zumindest wird das Gesetz zeitlich terminiert, die so produzierte Energie auf maximal 2 TWh/a beschränkt und es wird festgelegt, dass nach erfolgter Produktion ein vollständiger Rückbau mit Wiederherstellung des Ursprungszustandes erfolgen muss. Unser Fazit: Das Gesetz kann tatsächlich helfen, uns unabhängiger von fossilen Energien und Importen zu machen. Und da Biotope von nationaler Bedeutung von der Nutzung ausgenommen wurden, akzeptieren wir das Gesetz.


Die Festlegung eines grundsätzlichen Vorrangs der Interessen erneuerbarer Energien vor dem Naturschutz ist unklug, denn wir brauchen eine intakte Biodiversität, um gut leben zu können. In der weiteren Beratung zum Mantelerlass für eine sichere Versorgung mit erneuerbaren Energien, muss dafür gesorgt werden, dass insbesondere Biotope von nationaler Bedeutung geschützt bleiben. Die Umweltorganisationen haben während der Herbstsession darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, die Klimafrage und die Frage der Biodiversität gemeinsam zu betrachten. Sie werden sich weiterhin gemeinsam für eine Energiewende einsetzen, die im Einklang mit der Natur und den Menschen vollzogen wird. 

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